Endlich wieder Trends!
Sie galten schon als überholt. Dabei sind Trends das beste Navi im
unübersichtlichen Modemarkt. Gastautorin Susan Stone vom amerikanischen Wochenmagazin Women's Wear Daily schreibt exklusiv für flair, welche vier Trendansagen in dieser Saison
die Richtung vorgeben
Text: Susan Stone
Fotos: catwalkpictures.com, Anna Rose Hankow
Designer-Diktate sind längst passé. Aber was ist so falsch an ein paar schicken Ideen?“, sinnierte vergangenes Frühjahr eine Redakteurin der amerikanischen Modebibel WWD über die trendige Idee, dass der Trend absolut nicht mehr im Trend liegt– sondern vielmehr wirklich tot ist.
Aber ist der Trend tatsächlich komplett von der Bildfläche verschwunden? Oder wurde er von Designern und Geschäftsleuten einfach nur in seine kleinsten Teilchen zerlegt, weil man einem von Smartphones, Tablets und Fashion-Entertainment schwer abgelenkten Publikum möglichst viele Optionen bieten will? Man denke nur daran, wie viele solcher Minitrends (Fransen! Pelzbesatz! Schlaghosen!) einer nach dem anderen auftauchten – und ebenso schnell wieder spurlos verschwanden.
Gilt etwas, das zum Mainstream wird, eigentlich noch als Trend? Oder wird es zur Institution, wie die Skinny Jeans, in die wir uns seit mehr als zehn Jahren zwängen und die ihren elastischen Griff nun endlich zu lockern scheinen? Wann wandern aktuelle Trends ins Archiv der Modeerscheinungen?
Die Trendforscherin Li Edelkoort sorgte bereits letztes Jahr für Aufregung, als sie erklärte, das Konzept Mode sei obsolet. Anfang 2016 erklärte sie einer Gruppe von Branchenvertretern in Berlin: „Trends entwickeln sich langsamer denn je. Zu behaupten, sie wären schnelllebig, ist total lächerlich.“ Für Edelkoort beweisen 15 Jahre Hüfthosen-Trend und fast 20 Jahre Trendfarbe Rosa mehr als ausreichend, dass Trends quasi zum Standard werden können. Und das sei auch gut so, führte sie weiter aus. Ein Trend solle nicht nur für eine Saison entstehen. Bei längerfristigen Trends könnten sich Verarbeitungsmethoden und Materialien anpassen und mit neuen Ideen noch besser werden.
Hat das breit gestreute Fashionangebot der letzten Jahre denn wirklich dazu geführt, dass die Konsumenten ihren eigenen Stil entwickeln? War es nicht eher ein wirres Chaos, in dem sich Designerjünger und Durchschnittskäufer verzweifelt bemühten, den Überblick über die Flut an Ideen, Kollektionen und Social-Media-News zu behalten?
Die globalisierte Fashionista ist permanent online. Kundinnen auf dem Fünften Kontinent wollen nicht länger bis zum australischen Winter im Juni warten, um kuschelige Wintermode zu shoppen. Die Gier nach sofortiger Verfügbarkeit wird durch ein Übermaß an Information angetrieben. So wie Wetterwechsel immer schneller aufeinanderfolgen, verschwimmen auch die Modesaisons und verlieren zunehmend an Bedeutung. Wir haben mittlerweile Vor-Herbstkollektionen, also könnte es doch auch Nach-Frühjahrskollektionen geben. Wir sind derart vernetzt, dass wir ständig wissen wollen, was als Nächstes kommt – und zwar sofort, wenn’s geht. Einige Marken, darunter Burberry, Michael Kors und Tom Ford, haben dieser Forderung mit „See-now-buy-now“-Angeboten bereits nachgegeben. Statt Prêt-à-porter gibt es nun das, was von einigen Fachleuten als „Prêt-à-acheter“ bezeichnet wird– aus sofort tragbar wird sofort käuflich. „Unsere Kunden wollen heute Kollektionen, die sie unmittelbar erwerben können“, sagte Tom Ford und nannte die Wartezeit zwischen der Präsentation am Laufsteg und dem Verkauf im Handel schlicht „antiquiert“.
Vielleicht sollte man Trends heute also am besten als eine Art Ordnungssystem einsetzen. Schließlich ist Minimalismus für viele immer noch erstrebenswerter Kult. Und Entrümpeln wird dank der japanischen Aufräum-Ikone Marie „KonMari“ Kondo auch immer beliebter. Es heißt, zu viel Vertrautheit schade nur. Logik und Erfahrung lehren uns jedoch, dass Bekanntes wesentlich einfacher zu verstehen und zuzuordnen ist. Ist eine Marschrichtung vorgegeben und ein Muster erkennbar, können wir leichter das Beste aus der Ideenflut machen.
In diesem Sinne: Im Folgenden stellen wir Ihnen ein paar der richtungsweisenden Trends für die kommende Saison vor. Sie sind nur als Anregungen zu verstehen, die den kreativen Ideen auf den Laufstegen, dem regen Treiben auf den Straßen und unserem sich ständig verändernden Lebensstil entspringen. Betrachten Sie sie nicht als Einschränkung oder Grenze – tatsächlich können Trends sehr befreiend wirken. Picken Sie sich einfach heraus, was Ihnen am besten gefällt, und beobachten Sie den Rest aus der Ferne.
Trendansage: ECCENTRIC CHIC
Der Personenkult ist auf dem Vormarsch. Plötzlich bestimmen Randgruppen die Regeln. Die Geeks, die abgehobenen Genies, die in die Jahre gekommenen Models von advanced.style und jene, die sich kleiden, als wollten sie die Welt von ihrem eigenen Königreich aus erobern – sie alle werden von der Modewelt begeistert aufgenommen. Die große Tradition der Exzentriker ist wieder mehr als angesagt. Was ohne Zweifel auch an der schrulligen Vision von Gucci-Designer Alessandro Michele liegt, der ein „rhizomatisches Denken“ einfordert– ein Begriff , der nicht lineare, in alle Richtungen gehende Ideen impliziert. Sammeln und kombinieren Sie diese Ideen, holen Sie sich Anregungen bei Charakteren aus Wes-Anderson-Filmen oder von der fast 95-jährigen Fashionista Iris Apfel. Kenzos Stilmix „Viktorianisch trifft Manga“ erfreut und irritiert das Auge gleichermaßen.
Die Videospielmotive von Anya Hindmarch – pixelige „Space Invaders“ und pelzige „Pac-Man“-Geister – machen alles Spielerische begehrenswert. Für seine wild berüschte Fendi-Kollektion ließ sich Karl Lagerfeld von Albert Einsteins Gravitationswellentheorie inspirieren. Bunt zusammengewürfelte Üppigkeit im Vintagestil outet Sie spielerisch und selbstbewusst als Freak. Tragen Sie dafür mehrere Schichten übereinander, wie die Gothic-Dandys aus Marc Jacobs’ dunkler Fashion-Vision, die der Designer mit Schulterkragen aus gehäkelter Spitze, Lacklederschleifen und Patchworkpelzen krönte. Oder Sie entscheiden sich für eins der auffälligen Must-have-Accessoires dieser Saison: Sandalen, barocke Schnallenschuhe und klobige Treter zu Hosen oder Röcken in sich beißenden Farben, Hüte mit Netzschleier, flatternde Bänder oder Schärpen, Pelzstolen und gewagt-witzige Taschen. Sie haben die Wahl.
Trendansage: Gender Crossing
Gegenwärtige wie zukünftige Generationen sind wesentlich eher bereit, die traditionellen Geschlechterrollen zugunsten einer erheblich flexibleren „gender fluidity“ aufzugeben. Die ganze Bandbreite kann sich hier frei entfalten – von Püppchen bis Macho, von androgyn bis unisex und alle Nuancen dazwischen. Ladylike? Wie es Madame beliebt. Immer mehr Designer zeigen ihre Kollektionen für Frauen und Männer gemeinsam, beispielsweise Gucci, Burberry und Andreas Kronthaler für Vivienne Westwood. Letzteres ist eine Kooperation, die Mode für sie und ihn entwirft und diese Saison den Großteil
davon als Unisexbekleidung anbieten will. In der Herbstsaison 2016 machen Alexander McQueen und Oscar de la Renta mit Korsagen, Miedern und eingeschnürten Taillen das Beste aus (weiblichen) Kurven. Und Hosenanzüge mit Schulterpolstern von Gareth Pugh nahmen alle Erwartungen auf die leichte Schulter. Eine Horde Soldaten stürmte in Military-Looks über die Laufstege, konnte den „Material Girls“ von Chanel aber nicht die Show stehlen. Bei Dries Van Noten trifft Vorschuljunge auf Femme fatale. Brogues, Loafer und die geschnürten Kampfstiefel von Louis Vuitton dienen als standfester Unterbau für Kleider und Röcke. Bei den Damen tauchen Elemente und Stilrichtungen aus der Herrenmode auf, während Designer wie Jonathan Anderson Rüschen und anderen Zierrat auch bei den Männern einsetzen. Transgendermodels sind die neuen Musen. Wie sagte doch gleich Miuccia Prada, deren Herbstkollektion für Männer und Frauen eindeutig vom Seemannslook (inklusive Matrosenmütze) inspiriert war: „Die echte Revolution ist möglicherweise, wie ähnlich sich Damen- und Herrenmode geworden sind.“
Trendansage: HIGH FUNCTION
Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verwischen immer mehr, und die Designer haben den Schritt zum salopperen Lifestyle bereitwillig mitgemacht. Streetwear wird bürotauglich, und Sportbekleidung erfindet sich neu mit teuren Materialien und verbesserten Schnitten.
Funktionelles Crossover erobert die Laufstege: zum Beispiel die schulterfrei getragenen Anoraks von Balenciaga, inspiriert von den klassischen Capemänteln des Labels. Oder voluminöse Daunenjacken mit samtigem Oberstoff von Stella McCartney, passend zu schimmernden Plisseeoberteilen. Rick Owens zeigte weite, abgesteppte Mäntel in einem Kakaofarbton. Und Kapuzenshirts und Sweater bleiben uns auch weiterhin erhalten. Alexander Wang präsentierte sie aufgepeppt mit ausgefallenen Streetwear-Akzenten und meinte, seine Kollektion „widerspricht mit voller Absicht den gängigen Definitionen von Schönheit und Geschmack“.
Vetements als Meister des Spiels mit den Extremen schließlich zaubert Maxiröcke und Kleidungsstücke in Megagröße aus Funktionsmaterial. Die Hightechstoffe werden selbstverständlich auch dezenter eingesetzt – etwa bei den Ski-Steghosen von Marni. In der kommerziellen Ecke verkünden Fenty Puma by Rihanna, Athleisure sei gekommen, um zu bleiben – und bestechend in Form. Denken Sie nur an den Riesenerfolg der Ivy-Park-Kollektion von Beyoncé.
Trendansage: MAGIC REALISM
Eine Realität, in der die Nachrichten voller Berichte über Krieg, Terror und Katastrophen sind, scheint wenig erstrebenswert. Flüchten Sie lieber ins Reich der Schönheit. In Ihrem Kleiderschrank werden Märchen wahr, ganz ohne böse Hexen und Bestien. Edle Stoffe und strukturreiche Materialien wie Pelz und Federn verführen zu gewagten Experimenten. Glitzernde Details finden ihren Platz im Alltag. Das betrifft aber nicht nur Kleidung im Romantikstil, es schwappt auch auf die Sportswear über. Die üppigen, schimmernden Anzüge und Stiefel von 3.1 Phillip Lim beweisen, dass Samt durchaus bürotauglich ist. Opening Ceremony gestaltete Ton-in-Ton-Zweiteiler aus samtigem Stoff und verarbeitete glitzerndes Lamé zu traumhaften, weich fließenden Hosen.
Allerdings hat auch dieser Trend seine bizarren Auswüchse. Die surrealen Anzüge von Thom Browne wirken wie ein modischer Blick in Alices Wunderland.
Und gigantische, fast bis zum Boden wallende Ärmel sind beinahe schon Standard. Valentino zeigte strenge schwarze Schwäne und majestätische Feen, umgeben von Wolken, Blumen und Sternen. Bei Moschino setzten Jeremy Scotts rebellische Cinderellas den Ballsaal beim Verlassen in Brand. Und Dolce & Gabbana präsentierten Mode als Disney-Fantasie im wahrsten Sinne des Wortes. „Jedes Mädchen möchte heute Prinzessin sein“, erzählte Stefano Gabbana den anwesenden Journalisten während der Kollektions-Preview der Marke. „Heutzutage stehen jungen Menschen alle Türen offen.“ Na, wenn das kein Happy End ist …