flair im Juni

Heimweh oder Fernweh?

Nichts wie weg, denken die meisten Menschen – weil es in der Ferne so viel schöner, intensiver, aufregender ist als zu Hause. Stimmt nicht, sagt die Bestseller- und flair-Autorin Vea Kaiser. Und plädiert in der Juni-Ausgabe dafür, dem Heimweh öfter nachzugeben
als dem Drang nach der Ferne

Illustration: Onka Allmayer-Beck
Illustration: Onka Allmayer-Beck

Telefonate mit meiner besten Freundin laufen zurzeit oft nach demselben Schema ab: Sie stöhnt, dass ihre beiden kleinen Kinder und die Renovierung ihr das letzte Fünkchen Lebensenergie rauben, woraufhin ich mich darüber beklage, was mir an dem Hotelzimmer nicht passt, in dem ich für die jeweilige Nacht einquartiert wurde. Ich toure noch bis Jahresende mit meinem neuen Buch durch bis zu fünf Städte pro Woche. Mal ist das Bett zu klein, mal surrt die Heizung, mal sind die Fenster schlecht isoliert, und diese lächerlichen Lüftchen-Maschinen namens Hotelföhn schaffen es sowieso nie, meinen Bedürfnissen zu genügen. Vor allem aber haben all diese Hotels einen gemeinsamen großen Mangel: Sie sind nicht mein Zuhause. „Ich würde trotzdem sofort mit dir tauschen“, antwortet meine beste Freundin dann, und wenn ich im Hintergrund ihre Kinder schreien höre, begleitet vom Geräusch kaputtgehender Einrichtungsgegenstände, kann mein Kopf sogar verstehen, warum sie lieber in meinem Hotelzimmer wäre als bei ihr zu Hause – mein Herz jedoch nicht.

Natürlich bereichern Reisen das Leben. Neue Orte zu entdecken hilft, neue Gedanken zu fassen oder vom Trott des Alltags loszukommen und zu entspannen. Manchmal muss man die Perspektive wechseln, um klarer zu sehen. Manchmal muss man Distanz bekommen, um sich wieder zu spüren. Manchmal muss man weg von zu Hause, um zu erkennen, wie schön es ist. Doch all das hat wenig mit dem überall propagierten Fernweh unserer Gesellschaft zu tun. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind vollgepflastert mit Werbeanzeigen, die Auslandsjahre und Sprachreisen für Schüler anbieten. Als ob es unbedingt nötig sei, noch vor der Volljährigkeit lange von zu Hause wegzugehen. Ein Studium ohne mindestens zwei Auslandssemester scheint kein vollwertiges Studium mehr zu sein, und das halbe Internet besteht sowieso aus Reise-Organisations- Homepages. Am bizarrsten finde ich allerdings jene Abende, an denen eine ganze Tischgesellschaft nur noch über Reisen spricht. Da lobe ich mir graue Vorzeiten, in denen man Diashows von Familienurlauben über sich ergehen lassen musste …

flair 0619 schatten
11.06.2019